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Live Commerce in China: Ein Erfolgsmodell für den westlichen E-Commerce?

Katrin Grieser
Katrin Grieser
03. Dez. 2024

In kaum einem Land hat der Onlinehandel so transformative Züge angenommen wie in China. Selbst im Auge des E-Commerce-Orkans des letzten Jahrzehnts hat der chinesische Markt die Pole Position eingenommen und verteidigt sie mit Elan. Eine der bemerkenswertesten Entwicklungen ist der Aufstieg des Live Commerce – einer Verschmelzung von Livestreaming, Interaktivität und Sofortkaufmöglichkeiten. Plattformen wie Taobao Live, JD.com oder Kuaishou haben Live Commerce in China zu einer milliardenschweren Industrie gemacht. Produkte werden in Echtzeit vorgeführt, ZuschauerInnen können Fragen stellen, Meinungen austauschen und mit einem Klick kaufen. Das Ergebnis: Eine völlig neue Art des Shoppings, die mehr Unterhaltung und Interaktion bietet, als klassische Onlineshops es je könnten.

Doch während Live Commerce in China längst den Alltag vieler KonsumentInnen prägt, fristet dieses Konzept in westlichen Märkten noch ein Nischendasein. Viele Marken und Plattformen experimentieren zwar mit dem Format, doch die Erfolge bleiben überschaubar. Warum ist Live Commerce in China so erfolgreich? Welche kulturellen und technologischen Unterschiede gibt es zwischen Ost und West? Und wie können westliche Unternehmen von den Erfahrungen des asiatischen Vorreitermarktes profitieren? Diese Fragen sind zentral, um das Potenzial von Live Commerce im westlichen E-Commerce zu erschließen.


Das Erfolgsgeheimnis des Live Commerce in China

Um die Dynamik des Live Commerce zu verstehen, muss man einen Blick auf die besonderen Bedingungen werfen, die diesen Trend in China begünstigt haben. Der chinesische Markt zeichnet sich durch eine hohe Technologieakzeptanz, eine starke Plattformökonomie und kulturelle Besonderheiten aus, die Livestreaming als Verkaufsinstrument besonders erfolgreich machen.
Chinas E-Commerce ist von Haus aus stark durch Innovation geprägt. VerbraucherInnen verbringen einen großen Teil ihrer Zeit auf digitalen Plattformen wie WeChat, Douyin (der chinesischen Version von TikTok) oder Taobao. Diese Plattformen haben es geschafft, soziale Interaktion, Unterhaltung und Einkaufserlebnisse nahtlos miteinander zu verknüpfen. KonsumentInnen können in einer einzigen App ein Video schauen, einem Livestream folgen, Fragen stellen und das vorgestellte Produkt direkt kaufen.

Key Opinion Leaders: Die treibende Kraft

Ein entscheidender Erfolgsfaktor für den Live Commerce in China ist das hohe Vertrauen in Key Opinion Leaders (KOLs) und LivestreamerInnen. Diese Persönlichkeiten sind weit mehr als klassische InfluencerInnen – sie verkörpern eine einzigartige Mischung aus MeinungsführerInnen, UnterhalterInnen und BeraterInnen. Besonders bekannte Hosts wie Viya oder Austin Li, der als „The Lipstick King“ bekannt ist, haben sich eine treue Anhängerschaft aufgebaut, die ihre Live-Sessions beinahe religiös verfolgt. KonsumentInnen schätzen vor allem die Authentizität und das Engagement dieser Hosts, wodurch eine starke emotionale Bindung entsteht.

Dieses Vertrauen in KOLs spiegelt sich in der chinesischen Konsumkultur wider, in der Shopping oft als soziales Ereignis wahrgenommen wird. Livestreams, bei denen Tausende gleichzeitig zuschauen, erzeugen ein Gefühl von Gemeinschaft und Exklusivität. Zeitlich begrenzte Angebote und spezielle Rabatte verstärken zusätzlich das Gefühl der Dringlichkeit, was den Absatz deutlich steigert.

Die Einbindung von KOLs macht die besondere Verbindung zwischen Unterhaltung, Interaktion und Shopping in China mehr als deutlich. Indem sie Produkte in Live-Sessions nicht nur vorstellen, sondern auch Fragen beantworten und emotionale Geschichten erzählen, schaffen sie ein einzigartiges Gemeinschaftserlebnis.

Noch mehr Eindrücke aus erster Hand zu Key Opinion Leaders und dem chinesischen Future Retail gibt es übrigens in Sven Rittaus 'Chinese Retail Innovation Diary'. Ein Blick lohnt sich sehr!

Zusammengefasst: Warum funktioniert Live Commerce in China so gut?

  • Technologische Integration: Plattformen bündeln Unterhaltung, soziale Interaktion und Kaufabwicklung in einer App.
  • Kulturelle Offenheit: VerbraucherInnen empfinden Live-Streamer als vertrauenswürdig und schätzen deren Expertise.
  • Emotionale Ansprache: Livestreams schaffen Gemeinschaftsgefühl und nutzen psychologische Trigger wie Exklusivität und Verknappung.


Warum der Westen hinterherhinkt

Im Westen hingegen bleibt Live Commerce noch ein Randphänomen. Plattformen wie Amazon Live, TikTok Shopping oder Instagram Live Shopping haben das Format zwar eingeführt, doch der Durchbruch steht noch aus. Einer der Hauptgründe dafür sind die unterschiedlichen Konsumgewohnheiten und die technologische Infrastruktur.
Westliche VerbraucherInnen sind traditionell vorsichtiger, wenn es um neue Technologien geht, die ihre Kaufentscheidungen beeinflussen könnten. Während Chinesen Live-Streamer als vertrauenswürdige Berater sehen, empfinden viele westliche KonsumentInnen InfluencerInnen eher als Werbeträger. Dies führt zu einer grundlegenden Skepsis gegenüber den Inhalten von Live-Commerce-Sessions.

Ein weiterer Faktor ist die Fragmentierung der Plattformen. Anders als in China, wo Plattformen wie Taobao oder Douyin alle notwendigen Funktionen – von der Live-Übertragung bis zur Zahlungsabwicklung – in einer App bündeln, sind soziale Medien und E-Commerce im Westen oft getrennt. Dies erschwert eine nahtlose Integration und macht das Nutzererlebnis weniger attraktiv.

Auch kulturelle Unterschiede spielen eine Rolle. Während in China das Gemeinschaftsgefühl beim Einkaufen stark ausgeprägt ist, legen westliche VerbraucherInnen größeren Wert auf Individualität und detaillierte Informationen. Der emotionale Aspekt des Einkaufens ist weniger präsent, wodurch die Impulsivität, die Live Commerce so erfolgreich macht, oft fehlt.


Eindrücke und Insights live aus Shanghai von der K5 X-PEDITION durch China gibt es in diesem Crossover Videopodcast von ChefTreff und Kassenzone. Karo Junker de Neui spricht Sven Rittau über Instant Retail, chinesische Giganten auf dem Marktplatzgeschäft, Live Shopping und Cross Border Commerce. Schau doch mal rein, ein Blick lohnt sich!



Das Potenzial von Live Commerce im Westen

Trotz dieser Herausforderungen bietet Live Commerce immense Möglichkeiten für westliche Märkte. Gerade die jüngere, kaufkräftige Generation, die Gen Z und Millennials, sucht nach innovativen und interaktiven Einkaufserlebnissen, die über das bloße Scrollen durch Produktseiten hinausgehen. Hier kann Live Commerce punkten.

Ein Schlüssel zum Erfolg liegt im Storytelling. Marken können ihre Produkte in einen narrativen Kontext einbetten, der die ZuschauerInnen emotional anspricht. Statt nur die technischen Details eines Produkts zu präsentieren, können Unternehmen zeigen, wie ein Produkt das Leben verbessert, Probleme löst oder einen bestimmten Lifestyle unterstreicht. Diese Form des „emotionalen Shoppings“ kann dazu beitragen, eine tiefere Bindung zur Marke aufzubauen.

Ein weiteres Potenzial liegt in der Exklusivität. Livestreams können als Event inszeniert werden, bei dem limitierte Produkte, spezielle Rabatte oder Premieren präsentiert werden. Diese Strategie erzeugt ein Gefühl der Dringlichkeit und FOMO und motiviert die ZuschauerInnen, spontan eine Kaufentscheidung zu treffen.

Zusammengefasst: folgende Vorteile hat Live Commerce auch im westlichen Onlinehandel?

  • Direkter KundInnenkontakt: Fragen und Feedback können in Echtzeit beantwortet werden, was Vertrauen schafft.
  • Unterhaltungswert: Live-Sessions bieten ein Erlebnis, das über das bloße Einkaufen hinausgeht.
  • Erweiterung der Zielgruppe: Junge, technikaffine KonsumentInnen können gezielt angesprochen werden.


Erfolgsbeispiele: Wer im Westen bereits mit Live Commerce Fuß fasst

Einige westliche Unternehmen und Plattformen experimentieren bereits erfolgreich mit Live Commerce. Die französische Kosmetikkette Sephora nutzt beispielsweise Livestreams, um Tutorials anzubieten und Produkte in Aktion zu zeigen. ZuschauerInnen können die gezeigten Artikel direkt kaufen und erhalten zusätzlich wertvolle Anwendungstipps.

Amazon Live hat in den USA ebenfalls erste Erfolge erzielt. Mit moderierten Live-Shows, bei denen Produkte vorgestellt und exklusive Deals angeboten werden, versucht der Online-Gigant aus Seattle, das Shopping-Erlebnis zu revolutionieren. Doch die Umsetzung ist dabei noch weit entfernt von der Dynamik und dem Unterhaltungswert, den chinesische Plattformen bieten.

Auch TikTok, Tochterunternehmen der chinesischen Tech-Größe ByteDance, hat das Potenzial von Live Commerce längst erkannt. In Großbritannien testet das Unternehmen ein Shopping-Format, bei dem InfluencerInnen und Marken zusammenarbeiten, um Produkte direkt in der App zu verkaufen. Auch wenn die Umsätze bislang noch hinter den Erwartungen zurückbleiben, zeigt dies, dass TikTok den richtigen Weg eingeschlagen hat.


Was der Westen von China lernen kann

Damit Live Commerce auch im Westen eine Erfolgsgeschichte wird, müssen Unternehmen die richtigen Strategien anwenden. Ein zentraler Punkt ist die Integration von Plattformen. Es braucht ein Ökosystem, das soziale Interaktion, Unterhaltung und Einkaufserlebnisse vereint. Die bisherigen Ansätze, bei denen soziale Medien und E-Commerce getrennt bleiben, sind nicht ausreichend.

Technologische Innovationen spielen ebenfalls eine wichtige Rolle. Augmented Reality (AR), Virtual Reality (VR) und Künstliche Intelligenz (KI) können dazu beitragen, Live-Commerce-Erlebnisse zu bereichern. Virtuelle Anproben oder Produkttests helfen dabei, das Vertrauen der VerbraucherInnen zu stärken und Retouren deutlich zu minimieren.
Darüber hinaus müssen Marken und Plattformen das Vertrauen der KonsumentInnen gewinnen. Dies gelingt am besten durch authentische und glaubwürdige Inhalte. Statt auf überinszenierte Werbung sollten Unternehmen auf echte Meinungen und eine ehrliche Interaktion mit den ZuschauerInnen setzen.

Nicht zuletzt ist eine Lokalisierung der Inhalte entscheidend. Während in China bunte und lebhafte Präsentationen dominieren, bevorzugen westliche KonsumentInnen oft ein reduziertes und professionelles Design. Marken müssen die kulturellen Besonderheiten ihrer Zielmärkte berücksichtigen, um ihre Botschaften effektiv zu vermitteln.


Eine vielversprechende Zukunft?

Live Commerce ist mehr als nur ein Trend – es ist eine Revolution des Einkaufens, die das Potenzial hat, den westlichen E-Commerce grundlegend zu verändern. Die Kombination aus Unterhaltung, Interaktion und nahtlosem Shopping bietet sowohl KonsumentInnen als auch Unternehmen enorme Vorteile.

Zwar gibt es kulturelle und strukturelle Unterschiede, die den Erfolg im Westen erschweren, doch mit der richtigen Strategie können diese Herausforderungen überwunden werden. Unternehmen, die frühzeitig in Live Commerce investieren und die Erkenntnisse aus dem chinesischen Markt adaptieren, haben die Chance, sich als Pioniere in diesem wachsenden Segment zu positionieren.

Jetzt ist der Zeitpunkt, mutige Schritte zu unternehmen und die Weichen für die Zukunft zu stellen. Denn eines ist sicher: Die KonsumentInnen von morgen wollen mehr als nur Produkte – sie suchen Erlebnisse, die begeistern und verbinden.

Sven Rittau
Sven Rittau
Geschäftsführer der K5
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