Aus europäischer Perspektive gleicht der E-Commerce in China zeitweise einem Fiebertraum. Hier wird Einkaufen von der reinen Transaktion zu einem technologischen und sozialen Erlebnis. Während in Europa teils noch über die Umsetzung von „Same-Day-Delivery“ und der Last Mile im Allgemeinen diskutiert wird, dominieren in China längst Drohnenlieferungen, Live-Shopping und eine völlig neue Form der Interaktion mit KonsumentInnen. Der E-Commerce in China zeigt, was möglich ist, wenn Konsumlaune, Technologie, datengetriebene Ansätze und Kundenzentrierung nahtlos ineinandergreifen.
Doch der Erfolg kommt nicht überraschend - und er hat System: Ein Mix aus riesigen Plattformen, smarten Logistiklösungen und innovativen Geschäftsmodellen macht den Unterschied. Es ist an der Zeit, genauer hinzusehen.
Mit einem jährlichen Umsatz von rund 2,2 Billionen US-Dollar (im Jahr 2023) ist China der unumstrittene Gigant des Onlinehandels und ist damit größer als die Märkte in Europa und den USA zusammen. Das ist allerdings nicht nur eine Frage der schieren Bevölkerungsgröße – immerhin leben hier über 1,4 Milliarden Menschen, von denen über 900 Millionen regelmäßig online shoppen (Stand Juni 2024). Es ist auch das Resultat einer Kombination aus Infrastruktur, Technologie und kulturellen Faktoren.
An dieser Stelle muss ein System erklärt werden, das auch für den E-Commerce in China eine ganze entscheidende Rolle spielt: das City Tier System. Wann genau diese Klassifizierung der chinesischen Städte begonnen hat, vermag heute niemand mehr zu sagen, denn es gibt (zumindest offiziell) keine offiziellen - will heißen staatlich abgesegneten - Listen.
Nichtsdestotrotz werden die 707 Städte der Volksrepublik China von ExpertInnen und diversen nationalen und internationalen Medien in mindestens drei, oft auch vier oder fünf, Tiers (dt. Stufen) eingeteilt. Für die Kategorisierung werden u.a. Faktoren wie Bevölkerung, GDP, Verbraucherverhalten, Verwaltungsstatus betrachtet. Viele HändlerInnen, InvestorInnen und auch Touristen orientieren sich an diesem System.
Als Tier 1 Städte werden also die Mega-Metropolen Peking, Shanghai, Guangzhou und Shenzhen gewertet. Im nächsten Tier findet man dann u.a. Chongqing, Chengdu, Hangzhou oder Shenyang, während die ‘kleineren’ Millionenstädte (kleiner heißt hier bevölkerungstechnisch von München bis München plus Berlin plus Hamburg plus Wien) zum Tier 3 gezählt werden.
Während also in den großen Tier 1 Städten wie Shanghai, Peking und Shenzhen bereits eine ausgereifte E-Commerce-Kultur herrscht, sind es zunehmend die ländlicheren Gebiete und Städte der unteren Tiers, die das Wachstum antreiben.
Plattformen wie Pinduoduo haben erkannt, dass auf dem Land und in kleineren Städten andere Spielregeln gelten. Dort dominieren günstige Preise, Gruppeneinkäufe und kreative Ansätze, um Vertrauen in den Onlinehandel zu schaffen.
Besonders interessant: Trotz der geografischen Herausforderungen erreicht die Logistik in China auch abgelegene Dörfer oft schneller, als wir in Europa von einer Großstadt in die nächste ein Paket liefern können.
Chinesische E-Commerce-Plattformen sind weit mehr als digitale Marktplätze – sie sind Ökosysteme, die alles miteinander verknüpfen: von der Bezahlung über die Logistik bis hin zur Kundenbindung mithilfe umfangreicher Datenanalyse. Die großen Namen sind inzwischen auch dem europäischen Ohr nicht mehr fremd:
Alibaba ist inzwischen ein Synonym für den chinesischen Onlinehandel. Mit Plattformen wie Taobao und Tmall hat das Unternehmen das Fundament gelegt, auf dem der heutige Erfolg des E-Commerce in China aufbaut.
Doch Alibaba geht weit über den Handel an und für sich hinaus und hat mit Cainiao ein eigenes Logistiknetzwerk und mit Alibaba Cloud eine der größten Datenplattformen weltweit geschaffen.
Während Alibaba den Marktplatz für DritthändlerInnen dominiert, setzt JD.com auf ein anderes Modell: den Direktverkauf. Das Unternehmen betreibt eigene Lagerhäuser und hat ein eigenes Logistiknetzwerk aufgebaut. Dadurch kann es nicht nur die Qualität seiner Produkte garantieren, sondern auch beeindruckend schnell liefern. In Großstädten wie Peking oder Shanghai ist Instant Retail, also die Zustellung innerhalb von höchstens ein bis zwei Stunden, längst Standard.
Was Pinduoduo so besonders macht, ist der Fokus auf Social-Commerce. Die Plattform nutzt spielerische Elemente und soziale Interaktionen, um KundInnen nicht nur zum Kaufen, sondern auch zum Mitmachen zu animieren. Das Prinzip: Je mehr Leute sich zusammentun, um ein Produkt zu kaufen, desto günstiger wird es. Dieses Modell, kombiniert mit einer aggressiven Preisstrategie, hat Pinduoduo besonders bei preissensiblen KonsumentInnen beliebt gemacht.
Du möchtest noch mehr First Hand Insights zu den Strategien und Modellen der E-Commerce-Giganten in China? Dann ist das K5X-PEDITION Diary von Sven Rittau genau das richtige für Dich!
Hier hat Sven seine Gedanken, Erfahrungen und Learnings aus dem einwöchigen Trip durch Peking, Hangzhou und Shanghai gesammelt und in Tagebucheinträgen mit Euch geteilt. Schaut doch mal rein:
Livestreaming hat den chinesischen E-Commerce grundlegend verändert. Plattformen wie Douyin (die chinesische Version von TikTok) und Taobao Live kombinieren mit Live Commerce Unterhaltung und Shopping - eine weiterentwickelte Form des Teleshoppings quasi. Dabei geht es NutzerInnen nicht mehr nur darum, ein Produkt zu kaufen – man will es erleben:
Live Commerce ist mittlerweile ein zentraler Bestandteil der Verkaufsstrategie vieler Marken in China und treibt die Umsätze in bisher ungekannte Höhen.
Während in Europa und vielen anderen Teilen der Welt für jede Funktion eine eigene App genutzt wird, hat sich in China das Konzept der Super-Apps etabliert, die nahezu alles abdecken. Diese Apps sind wahre All-in-one-Plattformen, die Kommunikation, Zahlungen, Shopping, Finanzdienstleistungen und zahlreiche weitere Services unter einem Dach vereinen. Die Super-App ist für chinesische NutzerInnen weit mehr als ein praktisches Tool – sie ist zu einem unverzichtbaren Bestandteil des Alltags geworden.
Mit über 1,3 Milliarden aktiven NutzerInnen ist WeChat das Paradebeispiel einer Super-App. Ursprünglich als Messenger-App gestartet, hat sich WeChat längst zu einem zentralen Hub für alle möglichen Lebensbereiche entwickelt. Kommunikation, soziale Netzwerke, Zahlungen, Nachrichten und Shopping – all das findet sich innerhalb einer einzigen Anwendung. So ist WeChat nicht nur ein Kommunikationsmittel, sondern auch ein soziales Netzwerk, das Funktionen von Facebook und WhatsApp kombiniert, ein Bezahlsystem wie PayPal integriert und durch seine Mini-Programme zu einem eigenständigen Online-Shop-Ökosystem geworden ist. Diese Mini-Programme ermöglichen es HändlerInnen, eigene Shops direkt in die App zu integrieren, wodurch der gesamte Kaufprozess – von der Produktauswahl bis zur Bezahlung – ohne je die App zu verlassen, abgewickelt werden kann.
Für Konsumentinnen ist dies eine riesige Zeitersparnis und ein nahtloses Erlebnis, da sie nicht zwischen verschiedenen Apps hin- und herwechseln müssen. WeChat hat somit den chinesischen Handel und das Konsumverhalten revolutioniert, indem es den gesamten E-Commerce-Prozess in einem einzigen Ökosystem bündelt. Händlerinnen können über WeChat ihre Zielgruppen direkt ansprechen, Werbung schalten, Transaktionen durchführen und dabei auch soziale Interaktionen fördern – alles in einer App, die sowohl als Einkaufsplattform als auch als Marketing-Tool dient.
Alipay, ursprünglich als reiner Bezahldienst für Alibaba gestartet, hat sich ebenfalls zu einer umfassenden Super-App entwickelt. Heute ist Alipay weit mehr als nur ein Zahlungsmittel. Es umfasst nun eine Vielzahl von Finanzdienstleistungen, aber auch diverse andere Services. Mit über ca. 700 Mio aktiven NutzerInnen monatlich hat Alipay sein Portfolio seit seiner Gründung 2004 kontinuierlich erweitert.
Zusätzlich zu den klassischen Finanzfunktionen bietet Alipay auch Shopping-Erlebnisse und E-Commerce-Funktionen, wodurch es direkt mit WeChat konkurriert. Die Plattform ermöglicht es NutzerInnen, Produkte zu kaufen, Rechnungen (auch für Nebenkosten) zu bezahlen und sogar Dienstleistungen wie Transport und Restaurantreservierungen zu buchen. In den letzten Jahren hat Alipay sich außerdem zu einer Plattform für Lifestyle-Dienste entwickelt, die Nutzern die Möglichkeit gibt, verschiedene Online- und Offline-Services zu nutzen – von der Suche nach einem Restaurant bis hin zu öffentlichen Verkehrsmitteln. Dieser Ansatz hat Alipay nicht nur zu einer der beliebtesten Apps in China gemacht, sondern auch zu einem wirtschaftlichen Ökosystem, das die Grenzen des traditionellen Finanz- und Zahlungsmarktes sprengt.
Video-Tipp
Eine der beliebtesten Keynotes auf der K5 2024: Ed Sanders Talk zum Thema "Demystifying Temu"!
Die Keynote ist vollgepackt mit Insights über den Hintergrund von Temu und sein Business Modell - und warum wir uns im Westen durchaus berechtigte Sorgen über den kometenhaften Aufstieg von Temu machen sollten. Wirf einen Blick in unsere Mediathek:
Chinas E-Commerce wäre ohne seine hochentwickelte Logistik-Infrastruktur nicht denkbar. Unternehmen wie Cainiao, SF Express oder JD Logistics setzen Maßstäbe, von denen europäische AnbieterInnen nur träumen können.
Im chinesischen E-Commerce sind Big Data und Künstliche Intelligenz (KI) weit mehr als Hilfsmittel – sie sind das Fundament, das den Erfolg der Branche erst ermöglicht. Plattformen wie Taobao, JD.com und Pinduoduo nutzen ausgeklügelte Datenstrategien, um KonsumentInnen ein maßgeschneidertes Einkaufserlebnis zu bieten.
Jeder Klick, jede Suche und jeder Kauf fließen in ein hoch entwickeltes System ein, das Produkte in Echtzeit empfiehlt. Plattformen analysieren nicht nur das Verhalten der NutzerInnen, sondern auch externe Faktoren wie saisonale Trends oder demografische Daten. Das Ziel: KonsumentInnen sollen nicht suchen müssen – die passenden Produkte werden ihnen präsentiert, bevor sie es selbst wissen. Diese Strategie erhöht nicht nur die Kundenzufriedenheit, sondern steigert auch die Kaufwahrscheinlichkeit erheblich.
Ein weiteres Highlight ist die dynamische Preisgestaltung. Mithilfe von KI-gestützten Algorithmen werden Preise automatisch angepasst, je nach:
Für HändlerInnen bedeutet das maximale Flexibilität und die Möglichkeit, Gewinne zu optimieren, während KonsumentInnen häufig das Gefühl haben, personalisierte Rabatte zu erhalten. Diese dynamischen Preise sind ein Schlüsselfaktor in den oft erbitterten Preiskriegen auf den Plattformen.
So beeindruckend diese datengetriebenen Strategien sind, sie werfen auch ethische Fragen auf. Die umfassende Datensammlung macht KonsumentInnen zunehmend gläsern, während dynamische Preise potenziell zu Ungerechtigkeiten führen können – etwa wenn unterschiedliche Kundengruppen stark abweichende Preise zahlen. Zudem könnten kleinere HändlerInnen ohne Zugang zu solchen Technologien ins Hintertreffen geraten, was den Wettbewerb verzerrt.
Plattformen wie Taobao kämpfen seit Jahren mit dem Problem gefälschter Produkte. Trotz Milliardeninvestitionen in Anti-Fälschungstechnologien bleibt es schwierig, den riesigen Markt lückenlos zu überwachen. Neue HändlerInnen tauchen schnell unter anderen Namen auf, und viele KonsumentInnen sind preissensitiv genug, um sich nicht an Fälschungen zu stören.
Der enorme Erfolg des chinesischen E-Commerce beruht auf einer fast schon gnadenlosen Effizienz. Dies betrifft nicht nur Plattformen, sondern auch die Logistikbranche und HerstellerInnen. Arbeitstage von 12 Stunden (neun Uhr morgens bis neun Uhr abends) und das 6 Tage die Woche – bekannt als „996” – sind besonders in Technologieunternehmen wie Alibaba oder JD.com verbreitet. In der Logistikbranche arbeiten Millionen von FahrerInnen unter extremem Zeitdruck, um Lieferungen innerhalb von Stunden zu garantieren. Die Löhne sind niedrig, die Arbeitsbedingungen oft prekär. Gleichzeitig fordern KonsumentInnen immer schnellere Lieferzeiten, was den Druck zusätzlich erhöht.
Die chinesische Regierung hat den Markt stärker unter Kontrolle gebracht. Verschärfte Anti-Monopol-Gesetze sollen Plattformen wie Alibaba und JD.com zügeln und den Wettbewerb fairer gestalten. Auch Datenschutzbestimmungen wie das PIPL, ähnlich der europäischen DSGVO, schränken die grenzenlose Datennutzung der Plattformen ein. Diese Eingriffe bremsen das Wachstum kurzfristig, stärken aber langfristig das Vertrauen.
Dennoch bleibt der Einfluss der Politik allgegenwärtig. In China sind staatliche Eingriffe nie nur wirtschaftlicher Natur – sie dienen auch der politischen Kontrolle. Unternehmen müssen stets darauf achten, in Einklang mit den Vorgaben der KPCh zu agieren. Themen wie Content-Moderation oder „sozialistische Werte“ haben direkten Einfluss auf Geschäftsmodelle und Innovationen.
Video-Tipp
Warum der europäische (digitale) Handel dringend die chinesische Konkurrenz im Blick haben muss, hat auch Prof. Dr. Gerrit Heinemann auf der K5 2024 aufgezeigt - anschaulich, mit viel Nachdruck und wenig Verständnis für wiederholt insolvente Warenhausketten. Ein Blick lohnt sich!
Die Dominanz des chinesischen E-Commerce beschränkt sich längst nicht mehr auf das eigene Land. Unternehmen wie SHEIN, Plattformen wie TikTok Shop oder Logistikanbieter wie Cainiao haben begonnen, den globalen Markt zu prägen. Dabei ist China nicht nur ein Exporteur von Waren, sondern auch von Strategien, Technologien und Geschäftsmodellen. Der Fokus liegt dabei auf drei zentralen Prinzipien, die weltweit Beachtung finden:
Der chinesische E-Commerce ist nicht nur ein Markt, sondern eine Zukunftsvision des globalen Handels. Mit der Mischung aus Technologien wie Künstlicher Intelligenz, einer extrem starken Logistik-Infrastruktur und dem Fokus auf soziale Interaktion haben chinesische Unternehmen Standards gesetzt, die weltweit kopiert werden. Doch die eigentliche Stärke liegt im Tempo der Innovation: Während in Europa und Nordamerika noch überlegt wird, hat China längst gehandelt. Diese Schnelligkeit ist nicht nur beeindruckend, sondern auch eine große Herausforderung für alle Player auf dem E-Commerce-Feld, die mithalten wollen.
Für westliche Unternehmen, die sich im globalen Wettbewerb behaupten wollen, gibt es aus den erfolgreichen chinesischen E-Commerce-Modellen viele Lehren zu ziehen:
China zeigt, wie schnell E-Commerce durch Kreativität und Wagemut neu definiert werden kann. Dabei handelt es sich nicht nur um technologische Innovationen, sondern auch um einen grundlegenden kulturellen Wandel. Einkaufen ist dort längst kein notwendiges Übel mehr, sondern ein sozialer und emotionaler Prozess, der Spaß macht, begeistert und Teil der Freizeitgestaltung sein kann.
Wer in Europa und den USA nicht nur zuschauen, sondern mitspielen möchte, sollte nicht nur die chinesischen Erfolgsmodelle analysieren, sondern schlussendlich auch den Mut finden, diese in den eigenen Kontext zu übertragen – schnell, konsequent und mit einem offenen Blick für die Bedürfnisse der KonsumentInnen von morgen. Denn eines ist klar: In der Welt des E-Commerce gehört die Zukunft denen, die bereit sind, sie aktiv zu gestalten.