Die digitale Landschaft Chinas pulsiert vor Vielfalt, von etablierten Größen wie Alibaba und JD.com bis zu aufstrebenden Playern wie Pinduoduo und Social-Commerce-Pionieren wie WeChat und Douyin (TikTok). Chinesische Plattformen und Marktplätze gestalten inzwischen nicht nur den Konsum in China, sondern beeinflussen auch internationale Märkte und Geschäftsmodelle.
Wir haben drei ExpertInnen befragt, die sich intensiv mit dem chinesischen Onlinehandel im Allgemeinen und Strategien auf dem chinesischen Markt im Besonderen auseinandersetzen. Wir haben sie um ihre ehrliche Einschätzung zu den chinesischen Erfolgsmodellen im E-Commerce gebeten - von Super Apps über Live Commerce bis hin zu Payment-Systemen. Denn über allem stehen die Fragen, was westliche Unternehmen und Brands von den chinesischen Größen lernen können? Was machen sie richtig, was lässt sich adaptieren und was muss in westlichen Märkten vermieden werden?
Um auf dem chinesischen Markt erfolgreich zu sein, ist es entscheidend, die kulturellen Besonderheiten zu verstehen und die eigenen Strategien entsprechend anzupassen. "Mobile First" ist nicht nur ein Schlagwort, sondern eine Notwendigkeit. Die kulturellen Unterschiede zwischen China und dem Westen sind immens und prägen das Kaufverhalten der KonsumentInnen maßgeblich.
"Anders als bei uns ist der chinesische E-Commerce sehr stark auf wenige große Plattformen zentriert. Eigene Onlineshops spielen für chinesische Brands oder Retailer kaum eine Rolle. Der Fokus auf Mobile-Strategien, nahtlose In-App-Erlebnisse wie Gamification und Entertainment, Social Commerce und Content ist beeindruckend und sollte als Inspiration für unseren westlichen E-Commerce dienen."
– Carsten Weiskopf, Director E-Commerce von BÖRLIND
Julia Zurwesten, Head of Salus and Schoenenberger for Greater China and Asia, betont: "Die erfolgreichen, großen chinesischen Plattformen konnten sich über viele Jahre hinweg in einem geschützten geografischen Raum etablieren... Die Devise 'Customer first' ist in China ohne Frage deutlich ausgeprägter als in Europa."
Sie weist auch auf die Bedeutung des Cross Border E-Commerce (CBEC) und die Notwendigkeit einer schnellen Lieferung hin, um wettbewerbsfähig zu sein: “Es gibt bestimmte ausländische Produkte, die in China nur über das sogenannte Cross Border E-Commerce (CBEC) verkauft werden können und ermöglicht so Zugang zu Waren, die für den normalen Offline Retail Verkauf keine Zulassung bekommen. Auch diese Produkte werden besteuert, sind aber generell schnell verfügbar, da sie in zollfreien Lägern innerhalb Chinas oder oft in Hongkong liegen. Hier ist das Thema Schnelligkeit in der Lieferung wichtig und ein reibungsloser Ablauf mit Auslieferung innerhalb von gut 48 Stunden wird als Voraussetzung gesehen.”
Video-Tipp
Wie es BÖRLIND, eine familiengeführte Traditionsmarke für Naturkosmetik, nicht nur in die USA, sondern auch nach China geschafft hat? Das erfährst Du in diesem ChefTreff Podcast, in dem Sven Rittau den Director E-Commerce des Unternehmens aus dem Schwarzwald, Carsten Weiskopf, zu Gast hat.
Auch Vertrauen ist ein rares Gut, das durch transparente Kommunikation und sichere Zahlungsmethoden aufgebaut werden muss. Ed Sander, China Digital Tech Researcher, unterstreicht den Aspekt des Vertrauens: „Gewohnheitsmäßiges Misstrauen ist ein Problem in China... VerbraucherInnen suchen auch nach authentischen Bewertungen auf Plattformen wie Xiaohongshu (rednote), weil Bewertungen oft nicht vertrauenswürdig sind, da sie von sogenannten 'water armies' und Klickfarmen gekauft werden können.“ Umso wichtiger ist es für westliche Unternehmen, auf den chinesischen Plattformen eine transparente und authentische Kommunikation zu pflegen und durch positive Bewertungen und Empfehlungen das Vertrauen der KundInnen zu gewinnen.
In China existiert eine Vielzahl spezialisierter Plattformen und Marktplätze, die eng mit Super-Apps verbunden sind. Die größten Hürden schätzt Carsten Weiskopf so ein: "Die größten Hemmnisse für ein vergleichbares Plattform-Ökosystem im Westen liegen nach meiner Einschätzung in unserer Regulatorik (v.a. Kartellrecht und Datenschutz) sowie dem ausgeprägten Wunsch nach Individualität in unserer Gesellschaft."
Er sieht jedoch diverse Möglichkeiten und Chancen für die Entwicklung ähnlicher Modelle, auch auf dem deutschen Markt: “Regulatorisch werden sich sicher Lösungen ergeben. Der Wunsch nach Individualität und personalisierter Kuratierung kann mit Hilfe Big Data und KI immer besser befriedigt werden. Daher halte ich eine sukzessive Marktkonsolidierung und -zusammenschlüsse in Richtung eines vergleichbaren Plattform-Ökosystems auch bei uns für sehr denkbar.”
Elon Musk würde X nur zu gerne in ein westliches WeChat verwandeln, aber aus verschiedenen Gründen glaube ich nicht, dass dies geschehen wird. Meines Erachtens gibt es zwei Hauptgründe. Zum einen sind die VerbraucherInnen daran gewöhnt, jede spezifische Funktion in einer separaten App auszuführen. Das Angebot einer einzigen App, in der alles enthalten ist, erweckt Misstrauen hinsichtlich des Datenschutzes. Andererseits finanzieren sich westliche soziale Plattformen hauptsächlich über Werbung, und es besteht keine Notwendigkeit, diese Strategie zu ändern."
– Ed Sander
Julia Zurwesten ist ebenfalls optimistisch und schließt technologische Entwicklungen dank KI nicht aus: "Wir haben in den zwei Jahren so viel technologische Entwicklung dank AI gesehen, dass ich generell nichts ausschließen würde... Um eine Super-App wie WeChat für den Westen zu kopieren, müsste wohl WhatsApp deutlich aufrüsten und enge Kooperationen zum Beispiel mit Amazon eingehen." Sie weist darauf hin, dass es bereits viele etablierte Player mit Stärken in verschiedenen Teilsegmenten gibt, die es zu integrieren gilt.
Ed Sander ergänzt: „Ich würde sagen, es gibt nur eine echte Super-App: WeChat. Die anderen sind einfach Multifunktions-Apps (Meituan, AliPay, Douyin in gewissem Maße), die mehrere Funktionen integrieren, oft durch die Verwendung von Mini-Programmen, die innerhalb der Haupt-App laufen.“
Westliche Plattformen setzen primär auf Werbung zur Monetarisierung - im Gegensatz zu chinesischen Plattformen: “WeChat hat sich schon früh dafür entschieden, das Kundenerlebnis in den Vordergrund zu stellen und die Werbung in der App zu begrenzen. Stattdessen wurden alle Arten von Diensten und E-Commerce über Miniprogramme integriert, wobei für die Zahlungen, die über WeChat Pay abgewickelt werden, eine geringe Servicegebühr erhoben wird. Dieser Ansatz förderte die Multifunktionalität und führte gleichzeitig zu einem viel besseren Kundenerlebnis.“
Live Commerce hat in China einen regelrechten Boom erlebt, neue Maßstäbe gesetzt und sich zu einem festen Bestandteil des dortigen Handels entwickelt. Carsten Weiskopf: "Live Shopping hat in China eine gewaltige Relevanz und macht bereits mehr als 30% des dortigen E-Commerce aus... Ich sehe daher eine große Relevanz des Live Commerce auch für uns." Er weist jedoch auf die geringen Margen und die Abhängigkeit von Key Opinion Leaders (KOLs) hin, die hohe Provisionen verlangen und den Preisdruck erhöhen: “Große KOLs rufen Provisionen von bis zu 40% auf. Gleichzeitig verlangen sie oft Sonderrabatte, die sie an ihre Followerschaft weitergeben können. Da kann die Luft mit Blick auf Margen schnell dünn werden.”
Julia Zurwesten erklärt: "In dem Thema hat sich wahnsinnig viel bewegt in den letzten Jahren und Millionen von ChinesInnen lieben es, über Livestreams einzukaufen... Insgesamt ist Livestreaming aber eine große Erfolgsstory in China und hat sicherlich auch viel Potenzial in anderen Märkten." Die Übertragung dieses Erfolgsmodells in den Westen ist mit Herausforderungen verbunden. Westliche Unternehmen müssen sich fragen, ob sie bereit sind, die hohen Kosten für Top-InfluencerInnen zu tragen und ob ihre Zielgruppe genügend Zeit und Interesse für lange Livestreams aufbringt. Julia Zurwesten warnt zum Beispiel vor den hohen Kosten für KOLs und der Notwendigkeit, kulturelle Besonderheiten zu beachten, um "Brand Blunders" zu vermeiden.
“Livestreaming mit großen KOLs wird oft für Brandbuilding genutzt. Als Marke, die in China dadurch schnell einen hohen Bekanntheitsgrad erlangen möchte, ist es auch immer wichtig, auf die kulturellen Besonderheiten zu achten. So wurde gerade Livestreamer und KOL Austin Li im Juni 2022 in einen Skandal verwickelt, als er eine Viennetta Ice Cream der Marke Wall‘s (Anm. d. Red. Markenname von Langnese in u.a. UK und China) präsentierte, die mit Oreo Keksen verziert einem Panzer ähnelte, und dies kurz vor dem Jahrestag des Tiananmen Square Massacre am 04. Juni 1989 – welches in den chinesischen Medien nicht erwähnt wird / werden darf.”
– Julia Zurwesten
Ed Sander ist weniger optimistisch und sieht das Potenzial im Westen kritischer: „Live Commerce ist zwar in China sehr beliebt, aber ich denke, wir sollten hier nicht den Erfolg erwarten, den wir in China gesehen haben.“ Er betont die unterschiedlichen Rahmenbedingungen, die geringere Bereitschaft westlicher KonsumentInnen, lange Livestreams anzusehen, und die fehlende Infrastruktur für professionelle Influencer: „Im Westen haben die meisten Menschen keine Zeit oder keine besseren Möglichkeiten, um sich lange Livestreams anzusehen. Die ModeratorInnen sind oft nicht so professionell ausgebildet wie in China, da es keine Infrastruktur von MCNs (Multi Channel Networks) gibt, die InfluencerInnen hervorbringen und verwalten. Außerdem würden westliche InfluencerInnen lieber mit der Produktion eines kurzen Videos für eine Marke gutes Geld verdienen, als jeden Abend stundenlang einen Livestream zu machen.
Und schließlich wollen Marken im Westen ihre Positionierung nicht beschädigen, indem sie die enormen Rabatte anbieten, die man in China sieht. Ich bin mir zwar sicher, dass es einen Markt für Live Commerce gibt, aber ich denke, wir sollten nicht den Erfolg erwarten, den wir in China gesehen haben.“
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Hier hat Sven seine Gedanken, Erfahrungen und Learnings aus dem einwöchigen Trip durch Peking, Hangzhou und Shanghai gesammelt und in Tagebucheinträgen mit Euch geteilt. Schaut doch mal rein:
Group Buying Modelle (团购, Tuángòu) sind chinesische Einkaufsmodelle, bei denen VerbraucherInnen sich über Online-Plattformen zusammenschließen, um Produkte oder Dienstleistungen zu vergünstigten Preisen direkt von HerstellerInnen oder HändlerInnen zu erwerben. Diese Modelle basieren auf Mengenrabatten und sozialem Einkauf, häufig über Plattformen wie Pinduoduo, Meituan oder in WeChat integrierte Anwendungen. Es gibt verschiedene Varianten, darunter:
Group-Buying-Modelle sind in China sehr beliebt und haben dazu beigetragen, den E-Commerce auch in ländlichen Regionen zu etablieren. Carsten Weiskopf betont: "Community-Group-Buying-Modelle zeigen, wie wichtig soziale Interaktionen und Gruppenpsychologie im E-Commerce sind... Eine 1:1 Übersetzung der chinesischen Community-Group-Modelle nach Deutschland halte ich für nicht relevant oder erfolgreich" und verweist auf das individualisiertere Konsumverhalten und den höheren Stellenwert des Datenschutzes in westlichen Ländern.
“Die Stärke von Pinduoduo (PDD) beruht darauf, dass es sich um eine Kombination aus social networking und group purchasing handelt. Man hat explizit die lower tier cities und ländliche Gegenden ausgewählt, da diese zu dem Zeitpunkt nicht im Fokus von den großen E-Commerce-Playern wie Alibaba und JD standen, sprich es brauchte und gab eine Nische, in der man schnell großen Marktanteil aufbauen konnte.”
– Julia Zurwesten
PDD hat also gezielt auf ländliche Regionen gesetzt und den NutzerInnen einen günstigen Zugang zu Produkten ermöglicht. Der Erfolg dieses Modells, gerade im ländlichen Bereich, beruht laut Julia Zurwesten auf verschiedenen Faktoren:
Ed Sander teilt eine andere Perspektive auf das Geschäftsmodell von Pinduoduo und unterscheidet dabei ganz klar zwischen Group Buying und Community Group Buying. „Pinduoduo ist kein Community Group Buying. Community Group Buying ist eine Methode, bei der Menschen in derselben Nachbarschaft auf einer Online-Plattform bestellen und die Waren (meist Lebensmittel) am nächsten Tag bei einem/einer GruppenleiterIn oder einem Abholpunkt abgeben. Pinduoduo bietet eine Form des Gruppenkaufs, bei der man einen niedrigeren Preis erhält, wenn man mit anderen zusammen einkauft. (...) Der „reguläre“ Preis, zu dem niemand die Produkte wirklich kauft, dient nur dazu, die Illusion eines hervorragenden Gruppenangebots zu erzeugen.
Der Gründer Colin Huang sagte einmal: ‘Der niedrige Preis ist nur eine Möglichkeit für Pinduoduo, NutzerInnen in einem bestimmten Stadium zu gewinnen.’ Pinduoduos Verständnis von Preis-Leistungs-Verhältnis ist es, ‘die Erwartungen der VerbraucherInnen immer zu übertreffen’. In Wirklichkeit geht es bei Pinduoduo darum, niedrige Preise für ein hohes Volumen an gebündelter Nachfrage durch die Illusion des Gruppeneinkaufs zu erzielen und diese Nachfrage an die chinesischen Fabriken zu verkaufen, von denen viele mit Überkapazitäten zu kämpfen haben. Das wahre Geschäftsmodell ist viel weniger schillernd, als man denkt.“
Ein weiterer entscheidender Faktor für den Erfolg der chinesischen Plattformen ist die breite Akzeptanz und Nutzung digitaler Zahlungssysteme. Julia Zurwesten verdeutlicht, dass die chinesische Regierung das Ziel verfolgt, nationale Champions im Bereich E-Commerce und Payment Optionen zu entwickeln: "Es erlaubt den chinesischen Plattformen, die KundInnen in einem geschlossenen Ökosystem zu halten, wo alle Informationen über die Plattform fließen und den Betreibern zugänglich sind. Wichtige Informationen wie Kundenvorlieben können eingesetzt werden, um Vorschläge für weitere Käufe und Aktionen zu teilen. Sowohl Tencent mit WeChatPay als auch Alibaba mit Alipay haben sehr früh ihre Payment Systeme mit den Plattformen integriert. Auch hier war es wieder möglich, innerhalb eines geschützten geografischen Raumes zu entwickeln und mit der Regierungsunterstützung, nationale Champions zu etablieren, die die Unabhängigkeit von westlichen Zahlungssystemen / Unternehmen als Ziel hatten."
Dies hat dazu geführt, dass sich AliPay und WeChat Pay als dominierende Zahlungsmethoden etabliert haben und traditionelle Kreditkarten oder Banküberweisungen in den Hintergrund gerückt sind . Selbst für die Begleichung von Strom- oder Wasserrechnungen können Super-Apps genutzt werden.
“Was die Hürden im Westen angeht, so waren und sind die Zahlungs-Apps in China zwar sehr innovativ, aber man darf nicht vergessen, dass sie aufkamen, weil viele ChinesInnen weder Bankkonten noch Bank- oder Kreditkarten hatten. Mobiles Bezahlen war im Westen lange Zeit weniger notwendig, da wir alle Bankkarten mit einem Pin-Code und heutzutage sogar NFC-Zahlungen haben. Die Notwendigkeit für mobiles Bezahlen ist einfach nicht gegeben, weil wir einen anderen Entwicklungsweg eingeschlagen haben. Derzeit führt AliPay NFC ein, weil es dies für eine bessere Zahlungsoption hält als die mobile Zahlung. Insofern laufen unsere Wege wieder zusammen.“
– Ed Sander
Auch Carsten hebt die Bedeutung der technologischen Vorreiterrolle Chinas im Bereich Mobile Payment hervor: "Digitale Zahlungssysteme wie Alipay und WeChat Pay sind zentral für den Erfolg chinesischer E-Commerce-Plattformen, da sie nahtlose und schnelle Transaktionen ermöglichen.” Die Etablierung ähnlicher Zahlungsdienstleistungen in europäischen Märkten hält er für realistisch, aber nicht in naher Zukunft: “Im Westen sehen wir ähnliche Entwicklungen mit Apple Pay oder Google Pay, aber die Fragmentierung des Marktes, regulatorische Hürden sowie der berechtigte Wunsch der Händler nach Kundendatenhoheit erschweren die Entwicklung."
Ed Sander betont die Rolle von AliPay beim Aufbau von Vertrauen und die Integration von Zahlungen in mobile Apps, was den E-Commerce in China revolutionierte: “AliPay war entscheidend dafür, dass die Menschen genug Vertrauen hatten, um auf Taobao zu kaufen. Die VerkäuferInnen wurden erst nach der Lieferung und der Annahme durch die VerbraucherInnen bezahlt, und die VerbraucherInnen mussten vor dem Versand bezahlen, was VerkäuferInnen genug Vertrauen gab, dass sie überhaupt bezahlt werden würden. Später, Mitte 2010, als das Zeitalter der Mobiltelefone anbrach, wurde die Bezahlung in mobile Apps wie WeChat und AilPay integriert.
Dies eröffnete noch mehr Möglichkeiten für den elektronischen Handel (die meisten ChinesInnen kauften nicht auf Taobao ein, weil sie keinen PC oder Laptop hatten) und die Bezahlung in Offline-Läden. Die Integration in Miniprogramme um 2017 herum eröffnete noch mehr Anwendungsfälle. Die Servicegebühr, die WeChat für Zahlungen mit WeChat Pay erheben konnte, war für Tencent ein großer Anreiz, diese Anwendungsfälle zu schaffen, sowohl für den E-Commerce als auch für lokale Dienstleistungen wie Essenslieferungen, Ride-Hailing, usw. Tencent investierte in Startups und kreierte Traffic für die Integration dieser Startups in die WeChat-App.“
Video-Tipp
Eindrücke und Insights live aus Shanghai von der K5 X-PEDITION durch China gibt es in diesem Crossover Videopodcast von ChefTreff und Kassenzone. Karo Junker de Neui spricht Sven Rittau über Instant Retail, chinesische Giganten auf dem Marktplatzgeschäft, Live Shopping und Cross Border Commerce. Schau doch mal rein!
Gamification ist ein weiterer wichtiger und lauter Trend im chinesischen E-Commerce, der auch im europäischen Handel für einiges an Aufsehen und rechtliche Konsequenzen gesorgt hat. Durch spielerische Elemente wie virtuelle Belohnungen, Wettbewerbe und interaktive Spiele (die Temu-Werbeclips auf diversen Kanälen lassen grüßen) werden KundInnen dazu animiert, mehr Zeit auf der Plattform zu verbringen und weitere Produkte zu kaufen.
Julia Zurwesten erklärt: “Gamification hat eine sehr hohe Bedeutung für die chinesischen KundInnen, ein gutes Beispiel für Engagement Brand to Customer ist die Prada Kampagne zum Qixi Festival 2024 (chinesisches Pendant zum Valentinstag): eine gelungene Kombination aus „heritage storytelling“ und einer „AI enhanced boyfriend experience“. Ein Brand Image Film, mit dem Brand Ambassador Li Xian und Model Xie Xin - romantische Elemente inklusive. Das Gaming Element entstand aus einer Partnerschaft mit Baidu für einen AI powered shopping assistant – einem digitalen Avatar von Li Xian, auch der „virtual boyfriend“ genannt. Dieser gab dann Insights zur Brand Story und personalisierten Shopping Advice.”
Hier wird auch deutlich, welche Rolle Gamification bei den großen chinesischen Promotionevents spielt, so Julia Zurwesten: “Zum Single’s Day Event, dem 11.11.2024, gab es bspw. enorme Retouren bzw. Abbruch-Raten – für Ralph Lauren soll die Abbruchrate bei bis zu 95% gelegen haben. Während der großen Promotions sind diese zwar generell höher als im Tagesgeschäft, diese außergewöhnlich hohe Zahl war jedoch vermutlich getrieben dadurch, dass KundInnen hochpreisige Artikel im Warenkorb platzierten, um eine bestimmte Mindestbestell-Grenze zu erreichen, um dann von weiteren Discounts profitieren zu können. Denn Ralph Lauren betreibt eine besonders schnelle und konsumentenfreundliche Retourenpolitik, mit Rückzahlung innerhalb von Sekunden.”
“Gamification-Elemente in chinesischen E-Commerce-Apps sind hocheffektiv für die Kundenbindung.(...) Grundsätzlich halte ich unsere Kultur für weniger verspielt als die chinesische und Gaming steht für uns oft im Widerspruch zu dem Seriositäts-Anspruch von Premiummarken. Dies könnte aber durch Schaffung passender, hochwertiger Ansätze aufgebrochen werden. In Glücksrädern oder Slotmaschinen wie bei Temu sehe ich keine Zukunft für den E-Commerce im Westen.”
– Carsten Weiskopf
Ed Sander betont beim Einsatz von Gamification-Elementen den Unterschied zwischen Kundenbindung und Kundenloyalität: „Fast alle bekannten Apps in China arbeiten mit irgendeiner Form von Gamification. Manchmal wird dies zur Steuerung des Verhaltens eingesetzt, wie Ant Forest in AliPay, das nachhaltiges Verbraucherverhalten belohnt. Manchmal zielt es auf die Kundenbindung ab, wie die Spiele in Pinduoduo, die einen für das häufige Öffnen der App belohnen. Oft geht es auch um die Kundenakquise, bei der man kostenlose Waren und Dienstleistungen erhält, wenn man neue NutzerInnen durch Spiele mit einem Mitglied-gewinnt-Mitglied-Element anwirbt.
Es gibt jedoch einen großen Unterschied zwischen Kundenbindung und Loyalität. Kundenbindung ist ein Verhalten. Loyalität ist ein Gefühl. Das eine geht nicht unbedingt mit dem anderen einher. Gamification kann zur Bindung von KundInnen führen, ohne dass diese das warme Gefühl der Loyalität haben: den Wunsch, bei einer Marke zu bleiben, weil man sich von ihr gut behandelt fühlt und sie nicht aufgeben möchte. Die Bindung kann durch Gamification-Tricks und Wechselbarrieren erreicht werden. Gamification kann also die Kundenbindung fördern. Aber Loyalität entsteht nur durch hohe Zufriedenheit und das Gefühl, dass man für sein Geschäft geschätzt wird.“
Der asiatische E-Commerce im Allgemeinen und chinesische Plattformen im Besonderen haben nicht die Geschwindigkeit in Sachen Innovationen hochgedreht, sondern setzen für den Onlinehandel weltweit potenziell neue Maßstäbe. Erfolgsmodelle wie Super-Apps, Live-Commerce oder Gamification haben gezeigt, wie tief Technologie, Innovation und Konsumverhalten miteinander verwoben sind. Doch eine direkte Übertragung dieser Konzepte auf westliche Märkte ist schwierig bis unmöglich – sei es durch regulatorische Hürden, kulturelle Unterschiede oder unterschiedliche Monetarisierungsstrategien.
Letztendlich wird der Erfolg für westliche Unternehmen nicht darin liegen, Chinas Plattformmodelle eins zu eins zu kopieren, sondern Kernprinzipien und -Strategien zu verstehen und gezielt zu adaptieren. Es gilt smarte Synergien zwischen Technologie, Kundenerwartungen und Marktgegebenheiten zu schaffen, ohne den Fokus zu verlieren.
Julia Zurwesten
Mit über 16 Jahren Erfahrungen im Bereich FMCG und mehr als 12 Jahren Erfahrung im asiatischen E-Commerce, zählt Julia Zurwesten, Head of Salus and Schoenenberger for Greater China and Asia, zu den wichtigsten ExpertInnen für Geschäftsmodelle im chinesischen Onlinehandel.
Carsten Weiskopf
Als Director E-Commerce der Natuskosmetik-Marke ANNEMARIE BÖRLIND hat Carsten Weiskopf dem Familienunternehmen im digitalen Handel zu einem ordentlichen Sprung nach vorne verholfen. Inzwischen hat die Brand nicht nur Nordamerika, sondern auch den chinesischen Markt erobert.
Ed Sander
Seit über 10 Jahren ist Ed Sander die Nummer Eins, wenn es um Deep Dives in die Tiefen des chinesischen Onlinehandels geht. Ed hat nicht nur einige Jahre in China gelebt und gearbeitet, sondern ist auch der Kopf hinter chinatalk.nl, gefragter Keynote Speaker und begeisterter Study Tour Leader.