China hat eine bemerkenswerte und fast beispiellose digitale Transformation durchlaufen, die das Land in den vergangenen 30 Jahren an die Spitze der weltweiten E-Commerce-Landschaft katapultiert hat. Mit einer Bevölkerung von über 1,4 Milliarden Menschen und einer rasant wachsenden Mittelschicht, hat China einen fruchtbaren Boden für innovative digitale Lösungen und Geschäftsmodelle geschaffen. Diese scheinen ihrer Zeit und den westlichen Märkten immer einen Schritt voraus zu sein. Im Zentrum dieses Siegeszugs: chinesische E-Commerce Plattformen und Marktplätze, die längst nicht mehr nur den heimischen Markt dominieren, sondern auch zunehmend Einfluss auf den westlichen E-Commerce ausüben.
Doch was zeichnet die chinesischen (Plattform-)Giganten des Onlinehandels aus? Was bedeutet ihr rasanter Aufstieg für den globalen E-Commerce? Und wo können sich westliche Player noch eine Scheibe abschneiden?
An der Spitze des chinesischen E-Commerce-Ökosystems thront Alibaba. Das Konglomerat, hat sich seit seiner Gründung 1999 zu weit mehr als nur einer B2B-Handelsplattform entwickelt. 2023 kam der Riese mit Sitz in Hangzhou auf einen Marktanteil von fast 42 Prozent. Mit seinen verschiedenen Tochterunternehmen deckt Alibaba nahezu jeden Aspekt des digitalen Handels ab:
Alibabas Erfolg basiert dabei auch auf der nahtlosen Integration verschiedener Dienste und Dienstleistungen. Von Zahlungsabwicklung (Alipay) über IT-Lösungen (Alibaba Cloud) bis hin zu Logistik (Cainiao) ein ganzheitliches Ökosystem, von dem sowohl HändlerInnen als auch KundInnen profitieren.
JD.com, oder Jingdong, wurde bereits 1998 gegründet und hat sich als direkter Konkurrent zu Alibaba etabliert – mit einem besonderen Fokus auf Qualität und Authentizität. Anders als Alibaba, das vor allem eine Plattform für Drittanbieter offeriert, ist JD.com selbst Anbieter vieler Produkte. Was JD.com zudem auszeichnet, ist seine hochentwickelte Logistikinfrastruktur:
Dieser Fokus auf Logistik hat JD.com zu einem bevorzugten Partner für viele internationale Marken gemacht, die Wert auf schnelle und zuverlässige Lieferung legen. Im Hinblick auf Marktanteile in China liegt JD.com mit 17,8 Prozent auf Platz zwei hinter Alibaba.
Als jüngster Player unter den großen E-Commerce-Plattformen hat Pinduoduo, 2015 gegründet, den Markt mit seinem innovativen "Team Purchase"-Modell und seinem Fokus auf Social Commerce aufgemischt:
Pinduoduos Erfolg, insbesondere in kleineren Städten und ländlichen Gebieten, zeigt, wie wichtig es ist, lokale Konsumgewohnheiten und soziale Dynamiken zu verstehen und in das Geschäftsmodell zu integrieren.
Obwohl die chinesische E-Commerce Plattform noch sehr jung ist, hatte Pindoudou zuletzt einen Marktanteil von 17,3 Prozent in China - Tendenz stark steigend. Pinduoduo ist übrigens eine Tochter der PDD Holdings Inc., einer Handelsgruppe mit offiziellem Sitz in Dublin, die durch ein weiteres Plattformprodukt für viel Aufsehen im Onlinehandel sorgt: Temu.
Temu hat den E-Commerce gehörig aufgemischt. Die Plattform stößt in westlichen Märkten auf viel Begeisterung - Abmahnungen durch den Verbraucherschutz und einem jüngst durch die EU-Kommission eröffneten Verfahren zum Trotz. Das Unternehmen verfolgt einen innovativen Ansatz, um KundInnen weltweit anzusprechen. Anders als traditionelle E-Commerce-Giganten setzt Temu nicht nur stark auf beinahe absurd günstige Preise, sondern auch auf Social Shopping und Gamification.
Die Strategie geht auf: Die Download-Zahlen der Temu App sowie die Visits auf der Website steigen immer weiter. Von ca. 440.000 Downloads im September 2022 ging es im März 2023 schon auf über 30 Millionen monatliche Downloads.
Video-Tipp
Eine der beliebtesten Keynotes auf der K5 2024: Ed Sanders Talk zum Thema "Demystifying Temu"!
Die Keynote ist vollgepackt mit Insights über den Hintergrund von Temu und sein Business Modell - und warum wir uns im Westen durchaus berechtigte Sorgen über den kometenhaften Aufstieg von Temu machen sollten.
Temus Erfolg basiert auf einer Kombination aus günstigen Preisen, einer ausgefeilten Logistik und der Nutzung von Pinduoduos Know-how im Social-Commerce-Bereich. Damit positioniert sich Temu als flexibles, globales Einkaufsziel, das die wachsende Nachfrage nach erschwinglichen Produkten und einem sozialen Einkaufserlebnis bedient.
SHEIN wurde 2008 in China gegründet - ursprünglich als Plattform für Hochzeitskleider. Das Modell wurde aber schnell erweitert und Shein zum Exportschlager Chinas. Mittlerweile hat das Unternehmen seinen Sitz in Singapur. Der Fast-Fashion-Riese hat den globalen Modemarkt ordentlich durchgerüttelt und hat mittlerweile eine enorme Reichweite, weit über den asiatischen Raum hinaus.
Auch die SHEIN-App zählt mittlerweile zu den am häufigsten heruntergeladenen Shopping-Apps weltweit.
Was SHEIN besonders macht, ist seine datengetriebene Produktion: Mittels KI und Datenanalyse erkennt der Fast-Fashion Gigant aufkommende Modetrends blitzschnell und bringt neue Designs innerhalb weniger Tage auf den Markt. So kann das Unternehmen ständig wechselnde Kollektionen zu extrem niedrigen Preisen anbieten.
Video-Tipp
Ihr möchtet mehr über Shein und sein Business Model erfahren? Dann schaut euch den Talk von Christina Fontana (Senior Director Brand Operations EMEA bei SHEIN) an, den sie auf der K5 2024 gehalten hat.
SHEIN setzt zudem auf direkte Vertriebswege ohne Zwischenhändler. So erreicht es besonders die junge Zielgruppe, die Mode zu günstigsten Preisen bevorzugt. Trotz Kritik an Umweltbelastungen und schlechten Arbeitsbedingungen, gilt SHEIN als Vorreiter eines neuen E-Commerce-Modells, das Agilität, Effizienz und eine enorme Produktvielfalt kombiniert.
In China verschwimmen die Grenzen zwischen E-Commerce und sozialen Medien zunehmend. Plattformen und sogenannte Super-Apps wie WeChat haben den Begriff "Social Commerce" neu definiert:
Diese Integration von sozialen Interaktionen und Handel schafft ein immersives Einkaufserlebnis, das weit über den reinen Transaktionsaspekt hinausgehen.
Live-Shopping hat im E-Commerce in China eine neue Dimension erreicht. Plattformen wie Taobao Live und Douyin (TikTok in China) haben das Format perfektioniert:
Diese Form des "Infotainment" hat sich, als Weiterentwicklung des berühmt-berüchtigten Teleshoppings als äußerst effektiv erwiesen, um das Engagement der KundInnen und Verkäufe zu steigern.
In China ist das Smartphone nicht nur ein Kommunikationsmittel, sondern das zentrale Tool für nahezu alle Aspekte des täglichen Lebens:
Diese mobile Zentrierung hat zu hochoptimierten und benutzerfreundlichen App-Erfahrungen geführt, die westliche Pendants oft in den Schatten stellen.
Chinesische E-Commerce-Giganten haben sich längst auf den Weg gemacht, ihre Reichweite über die eigenen Landesgrenzen hinaus auszuweiten und westliche Märkte zu erobern. Mit dem strategischen Fokus auf Innovation und preisgünstige Produkte setzen sie dabei neue Akzente und prägen Konsumgewohnheiten weltweit. Mit AliExpress und Temu gibt es bereits dediziert auf den US- und europäischen Markt zugeschnittene Pendants chinesischer Plattformen.
Diese Expansion chinesischer E-Commerce Plattformen bringt jedoch weit mehr als nur eine Fülle neuer Produkte auf westliche Märkte. Sie führt auch zur Einführung neuer Geschäftsmodelle und Technologien. Diese beeinflussen das Konsumverhalten nachhaltig und sind für westliche Unternehmen eine Herausforderung:
Chinesische Plattformen sind häufig Vorreiter bei der Implementierung neuer Technologien, die das Einkaufserlebnis personalisierter, nahtloser und ansprechender gestalten.
Der Erfolg chinesischer E-Commerce Plattformen hat auch im Westen das Kaufverhalten beeinflusst und neue Konsumtrends etabliert.
Chinesische Plattformen haben gezeigt, dass E-Commerce weit mehr sein kann als eine rein funktionale Transaktion . Es kann ein interaktives und unterhaltsames Erlebnis sein (im Rahmen der Gesetzgebung versteht sich).
Ein weiterer wichtiger Bereich, in dem chinesische E-Commerce Plattformen neue Maßstäbe setzen, ist die Logistik.
Die Dominanz mobiler Endgeräte (2023 belief sich die Internetnutzung über Mobiltelefone auf 99,8%) in China zeigt mehr als deutlich, wie wichtig eine optimierte mobile Erfahrung für das Konsumverhalten ist.
Eine strategische Mobile-First-Orientierung könnte auch westlichen Unternehmen helfen, die zunehmend mobil orientierte und digital native Zielgruppe besser anzusprechen.
Die enge Verzahnung von E-Commerce und sozialen Medien in China macht westlichen Märkten und Plattform-Playern deutlich, wie sehr Social Commerce die Kaufentscheidung beeinflussen kann.
Durch die stärkere Integration sozialer Elemente lässt sich das Einkaufserlebnis auch in europäischen Märkten interaktiver und gemeinschaftsorientierter gestalten.
Chinesische Plattformen zeichnen sich auch durch ihre Fähigkeit aus, extrem schnell auf Marktveränderungen zu reagieren.
The age old formula: Flexibilität zahlt sich aus und kann sogar erfolgsentscheidend sein. Der digitale Handel ist schnell und seine TeilnehmerInnen müssen noch schneller sein.
Chinesische Plattformen haben oft Zugriff auf umfangreiche Daten von NutzerInnen, stehen jedoch im Umgang mit diesen vor anderen Herausforderungen im Westen (obwohl auch China mit dem PIPL (Personal Information Protection Law) in Sachen Datenschutz 2021 nachgezogen hat):
Konsummuster, die in China erfolgreich sind, lassen sich nur in Ausnahmefällen eins zu eins auf westliche Märkte übertragen:
Westliche Staaten prüfen den Eintritt neuer Akteure sorgfältig und stellen sehr hohe Anforderungen an den Daten- und Verbraucherschutz (der ein oder andere asiatische Player hat die Konsequenzen bereits zu spüren bekommen). Diese Herausforderungen umfassen eine Vielzahl komplexer und teils miteinander verflochtener Themen, die sowohl rechtlicher als auch geopolitischer Natur sind.
Die chinesischen Marktplätze und Plattformen haben den globalen E-Commerce-Sektor nachhaltig verändert. Ihre neuen Ansätze in Bereichen wie Social Commerce, Mobile-First-Strategien und Logistikoptimierung bieten nicht nur neue Strategien und wertvolle Lehren für westliche Unternehmen. Gleichzeitig stellen kulturelle Unterschiede, regulatorische Herausforderungen, Datenschutz- und Sicherheitsbedenken Hürden dar, die es für die chinesischen E-Commerce Plattformen in Europa und den USA zu nehmen gilt.