Die E-Commerce-Branche hat eine Krankheit. Wir erblinden zunehmend, wenn es um die Bewertung von Technologie geht. Zu oft werden technologische Konzepte glorifiziert, ohne ihren wirklichen Nutzen oder ihre Sinnhaftigkeit für den eigenen Anwendungsfall zu hinterfragen. Wer Technologieentscheidungen der Technologie wegen trifft, kauft zukünftige Probleme gleich mit. Outcome-focused statt tech-focused Entscheidungen treffen ist die effektivere und vor allem zukunftssichere Herangehensweise.
Ich sehe immer wieder E-Commerce Projekte, die an ERP Projekte vor 10 Jahren erinnern. Es wird jahrelang intern gebastelt - ohne sichtbaren Effekt für Kunden und Unternehmen. Warum? Weil man sich einer technologischen Glaubensrichtung anschließt, anstatt eine konkrete Herausforderung an erste Stelle zu setzen und alle weiteren Entscheidungen dem dazugehörigen Ergebnisziel unterzuordnen.
Mach dies, mach das, weil es alle machen oder weil es immer funktioniert? So einfach ist es leider nicht. Technologie ist kein Selbstzweck. Der einzige Imperativ, den ich in Bezug auf Technologie stellen würde, ist: Tu das, was für Dich funktioniert. Das kann morgen schon etwas Anderes sein als heute, denn Anforderungen und Technologie selbst wandeln sich unaufhörlich und immer schneller. Deshalb optimiere knallhart auf Dein gewünschtes Ergebnis und nutze die Technologie, die Du dafür heute brauchst und die Du morgen so leicht wie möglich anpassen kannst.
Ein aktuell wieder sehr präsentes Beispiel eines zu allgemeingültig behandelten Technologiekonzepts sind Microservices. Die Idee hinter Microservices besteht darin, dass eine Anwendung in kleine, unabhängige Dienste unterteilt wird, die miteinander kommunizieren. Das soll ermöglichen, Änderungen schneller vorzunehmen und die Skalierbarkeit zu erhöhen. Gute Idee - in manchen Fällen. Aber die Verwendung von Microservices allein führt nicht automatisch zu größeren Warenkörben, schnelleren Feature Releases oder jedem anderen erwünschten Ergebnis, das ausschlaggebend für das Projekt war. Laut führenden Analysten scheitern über 50 % der Microservice orientierten E-Commerce Projekte. Zu viel klein klein, zu wenig Speed, null Outcome. Die Krone dieser Entwicklung ist sicherlich der Begriff “Headless Commerce”. Oft missverstanden, weil die Bezeichnung irreführend ist und noch öfter an der falschen Stelle eingesetzt wird.
Ergebnisorientiert Technologie auswählen und verwenden bedeutet für mich vor allem eines: maximale Flexibilität. Das einzige “Erfolgskonzept” im E-Commerce ist schnelle Anpassbarkeit. Zalando ist schnell erfolgreicher geworden als OTTO, weil es schneller umgesetzt hat, mehr ausprobieren konnte, ein relevantes Kundenerlebnis kombiniert hat - jeden Tag. Die Ware, die Zalando verkauft hat, war die gleiche - sie haben lediglich “schneller” kombiniert.
Schnelle und effiziente Kombination von Technologien, die dann wiederum einen Wertbeitrag zum Kunden erbringen, ist so etwas wie der heilige Gral im Techbereich geworden. Gartner nennt diese Entwicklung “Composable Commerce”. Vereinfacht gesagt bedeutet das, für jede Situation eine passende Kombination von Anwendungen und Diensten zusammenstellen zu können. Eine starke Abkehr von der offensichtlich gescheiterten Microservice-Denke. Gartner spricht dabei von drei Bestandteilen für echte Composability: Composable Thinking, Composable Business Architecture und Composable Technology. Mit anderen Worten: Das ganze Unternehmen und Denken muss fortlaufend anpassbar werden und Technologie ist ein Teil davon.
Es ist wichtig zu verstehen, dass die Verwendung der richtigen Technologie ein wichtiger Faktor für den Erfolg eines E-Commerce Business ist. Aber es ist genauso wichtig, dass die Technologieentscheidungen auf die tatsächlichen Ziele des Unternehmens ausgerichtet sind. Eine Technologie, die in einer Branche gut funktioniert, muss nicht unbedingt für ein anderes Unternehmen oder in einer anderen Branche geeignet sein. Daher sollten Unternehmen bei der Auswahl ihrer Technologie ihre Ziele und Anforderungen im Auge behalten. Es muss klar ersichtlich sein, wie die Technologie dazu beiträgt, die gewünschten Ergebnisse zu erzielen; sei es in Bezug auf Umsatz, Geschwindigkeit, Kundenbindung oder, oder, oder.
Deine Herausforderung, Dein angestrebter Outcome, Deine passende Technologie. In dieser Reihenfolge.
OTTO hat übrigens versucht, mit einer auf Microservices beruhenden Architektur eine Antwort auf Zalando zu finden, seit ca. 2013 - seit ziemlich genau 10 Jahren also. Die Fortschritte sind gut sichtbar, aber sie kommen immer 5 Jahre zu spät, wie viele aktive und ehemalige OTTO Kollegen auf der K5 im vertrauten Gespräch sicher bestätigen werden.
Von Alexander Graf
Alexander Graf ist leidenschaftlicher E-Commerce-Unternehmer, Seriengründer sowie Handels- und Digital-Experte. Als CEO von Spryker, einem Softwareunternehmen für Composable Commerce, gestaltet er die Disruption von transaktionalem Business jeder Art. Spryker verhilft multinationalen Playern wie Aldi, Siemens Healthineers oder Toyota mit einem der fortschrittlichsten Commerce-Betriebssysteme weltweit zu mehr Umsatz. Wann immer es um die Digitalisierung des Handels geht, ist Alexander Graf als Host des Branchen-Podcasts „Kassenzone“ ein gefragter Experte.